
Über die Wut
Wenn wir Wut in uns spüren, so passiert dies meist sehr plötzlich. Wenn uns die Wut überkommt, so vereinnahmt sie uns von Kopf bis Fuß. Sie versetzt unser Blut in Wallungen, versetzt uns in Aktion und schaltet zugleich unsere Reflexionsfähigkeit und unsere Urteilskraft aus. Dies ist wohl der Grund, dass sich die Wut oftmals nicht gerade besonderer Beliebtheit erfreut. Der Schwall an Kraft und Energie, der uns in der Wut überkommt, kann viel Unheil anrichten. Auf die kurze Erleichterung, endlich „Druck abgelassen zu haben“ folgt oft die Erkenntnis, dass der der Wut innewohnende Drang nach Veränderung nicht zur erwünschten Neuordnung der Lage geführt hat, sondern noch mehr Chaos angerichtet hat. Aus diesem Grund wird schon Kindern oft vermittelt, dass es schlecht ist, Wut zu empfinden. Dies behindert uns schlussendlich darin, einen gesunden Umgang mit unserer Wut zu erlernen.
Die Wut überrascht uns immer dann, wenn wir in irgendeiner Form an unsere Grenzen gestoßen sind. Sie sagt uns in ihrer lauten Art, dass es einer Veränderung bedarf, dass der momentane Zustand nicht mehr tragbar ist. Vielleicht sind wir schon seit längerer Zeit überfordert und gestresst und sind zu oft über die eigenen Grenzen gegangen? Vielleicht verstecken sich hinter der Wut Angst, Traurigkeit und Hilflosigkeit, die nun gehört werden wollen? Vielleicht ließen wir es zu lange zu, über unsere Grenzen zu gehen und haben zu lange unsere eigentlichen Bedürfnisse überhört, um gewissen Erwartungen zu entsprechen?
Wenn wir unsere Wut ernst nehmen, und uns bewusst machen, was in uns nach Veränderung schreit, so kann sie uns als wertvoller Navigator durchs Leben dienen. Wenn wir uns liebevoll der Wut annehmen und uns den Bedürfnissen zuwenden, die sich hinter unserer Wut verbergen, so nehmen wir der Wut ihre zerstörerische Seite und können sie in wohltuender Weise für anstehende Veränderungen nutzen. Sie zeigt sich nun in Form von Mut, Selbstbewusstsein und Entscheidungskraft. Sie gibt uns die Kraft, notwendige Entscheidungen zu fällen, ein anstehendes klärendes Gespräch mit einem Mitmenschen zu führen oder einfach einmal „Nein“ zu sagen und uns eine Pause zu gönnen. Die Wut hilft uns, unsere Grenzen zu spüren, unsere Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren und uns mitsamt unserer Begrenztheit und Verletzlichkeit lebendig und stark fühlen zu können.